Schadenfreude und Glückschmerz

Ein US-amerikanischer Anwalt benutzt das Wort Schadenfreude in einem Plädoyer

Der US-amerikanische Staranwalt Alan Shore der angesehenen Bostoner Anwaltskanzlei Crane, Pool & Schmidt(1) benutzte in einem seiner ruhm- und lehrreichen Plädoyers das deutsche Lehnwort Schadenfreude und nannte es als möglichen Grund für eine Vorverurteilung einer als gefühlskalt wahrgenommenen mutmaßlichen Ehegatten-Mörderin.

Gemessen an der Prägung der deutschen Sprache durch andere Sprachen – nicht zuletzt durch eine Anglisierung mit deren Hilfe wir in Sachen Internet mittlerweile topfit sind und über Twitter jede Menge Tweets posten können – mag es recht schmeichelhaft anmuten, dass deutsche Wörter ebenfalls in andere Sprachen übernommen und vom Sinn her in identischer Weise verwendet werden. So wird der Terminus Schadenfreude als deutsches Lehnwort nicht nur im Englischen, sondern auch in romanischen Sprachen wie Italienisch, Spanisch, Französisch und Portugisisch verwendet.

Augenfällig ist, dass Schadenfreude in der deutschen Sprache offensichtlich derart früh eine wichtige Rolle einnahm und dessen Gebrauch ausreichend alltäglich war, dass hieraus die Entstehung eines zusammengesetzten Lexems erfolgte und dieses in anderen Sprachen übernommen wurde. Auch wenn ein Sprichwort besagt, dass man Schadenfreude nur im Deutschen kennt ist das Konzept der Schadenfreude ein weltweites Phänomen – wie Alan Shore im Falle der USA verdeutlichte.

Der Ursprung und Umgang mit Schadenfreude

Bereits Aristoteles, einer der bekanntesten griechischen Philosophen aus der Antike , be- und verurteilte sie als böswillige Emotion

Kein Geringerer als Martin Luther (1483-1546) war dafür bekannt, einen hohen Anteil von Alltagssprache und neue Wörter in seine Bibelübersetzung einfließen zu lassen. Dennoch wird man den Begriff der Schadenfreude in der Lutherbibel vergeblich suchen. Gleichwohl schien Luther mit  dem Konzept der Schadenfreude vertraut zu sein da er einst verlauten ließ:

Wer den Schaden hat, darf für das Gespötte nicht sorgen

Ein Wink mit dem Zaunpfahl, möglichst tugendhaft wie ehrbar, vor allem jedoch unauffällig zu leben.  Mehr als 200 Jahre später wiederholte der deutschte Schriftsteller und Gelehrte Johann Jakob Wilhelm Heintze (1746-1803) diese Weisheit.

Es war der Elberfelder Bibel(2) aufgrund ihrer begriffsnahen Übersetzungsweise und Texttreue vorenthalten – obwohl sie nie dergleichen Verbreitung fand wie die Lutherbibel – die Popularität des Wortes Schadenfreude als auch deren Konzept um die Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert in einem nie zuvor dagewesenem Maße zu steigern. Erst recht, da die Elberfelder Bibel aufgrund ihrer wörtlichen Übersetzung zum Vorbild vieler anderer Übersetzungen wurde:

Als nun Mose sah, dass das Volk zuchtlos war,
denn Aaron hatte es zuchtlos werden lassen
zur Schadenfreude ihrer Gegner,
da trat Mose in das Tor des Lagers und rief:
Her zu mir, wer für den Herrn ist!
(Elberfelder Bibel, 2. Buch Mose, Kapitel 32, Vers 25-27)

Laura Duhan Kaplan, eremitierte Rabbinerin der Or Shalom Synagoge (Vancouver, Kanada) und Direktorin f. Interreligiöse Studien an der Vancouver School of Theology geht auf ihrem Blog der Frage nach, inwiefern Schadenfreude in der jüdischen Wertvorstellung verankert ist(3). Sie zieht hierfür eine Textstelle aus dem Buch der Psalmen (1. Schrift der Ketuvim, Heilige Schriften des Judentums) heran. So steht im Psalm 109, Kapitel 24:

They curse me, but You bless me.
When my enemies are disgraced,
I, Your servant, shall be glad

Mögen sie fluchen – du wirst segnen.
Sie haben sich erhoben,
aber sie werden zuschanden,
doch dein Knecht wird sich freuen.
Deutsche Übersetzung(4)

Anhand der Sprüche 24:17-18(5) und 29:11(6) aus dem Buch der Sprichwörter (ebenfalls Bestandteil der Ketuvim), welches im christlichen Alten Testament zu den Schriften der Dichtung und Weisheitsliteratur gehört, beschreibt Duhan Kaplan den gebotenen Umgang desjenigen, der im alttäglichen Leben Grund zur Schadenfreude verspürt:

Man solle es als Gefühl akzeptieren und beobachten
um die Weisheit über die Empfindungen des menschlichen Herzens zu vergrössern.
Man solle Schadenfreude jedoch nicht als Leitfaden für persönliches Verhalten
oder Denken benutzen stattdessen auf positive Aspekte vertrauen, die auf
ethischer Integrität beruhen statt auf persönlichem Vergleich(7)

In Entsprechung religiös geprägtem Verhaltenskodex wurde Schadenfreude in der Vergangenheit als Folge einer moralischen Dekadenz wahrgenommen und als beschämend erachtet weswegen viele Menschen dazu neigten, das mit Schadenfreude einhergehende Glücksgefühl verbergen zu wollen. Schadenfreude wurde in der Gesellschaft ebenso tabuisiert und konform zur Auffassung Aristoteles wie andere moralisch fragwürdige Erscheinungen stigmatisiert. Entsprechendes hielt der deutscher Schriftsteller Heinrich Martin Jaenicke (1818 – 1872) in seinem Sprichwort über die Schadenfreude fest:

Wer Schadenfreude bei des Nächsten Unglück zeigt,
der hat den Gipfelpunkt der Schlechtigkeit erreicht.

Schadenfreude in der Wissenschaft

Während der österreichische Psychologe Fritz Heider (1896-1988)  1958 in seinem Hauptwerk The Psychology of Interpersonal Relations Schadenfreude aufgrund der widersprüchlichen Reaktion auf jemandes Unglück als etwas Schlechtes und Boshaftes und daher grundsätzlich schädlich in sozialen Beziehungen ansah geht man heute in der Psychologie davon aus,  dass Schadenfreude für Einzelne oder Gruppen im sozialen Kontext, dem stetigen Selbstfindungsprozess sowie der Bildung  eines Selbstwertgefühles eine stark regulierende Wirkung hat.

In einem im Januar 2019 veröffentlichten und vorgeschlagenem psychologischem Modell(8) wird Schadenfreude unterteilt in eine

  • aggressionsbasierte
  • rivalitätsbasierte
  • gerechtigkeitsbasierte Schadenfreude

Der chinesische Psychologe ShenSheng Wang der US-amerikanischen Emory University in Atlanta et al. wertete für die Studie Daten aus sozialer, entwicklungsbezogener, persönlicher und klinischer Forschung zur Schadenfreude aus drei Jahrzehnten aus.

Die Forscher identifizierten drei voneinander abgrenzbare dennoch verwandte Unterformen einer Emotion, die sich durch die Erscheinung der Aggression, Rivalität oder Gerechtigkeit manifestieren und sich bereits während der Entwicklung von Säuglingen und Kindern entfalten.

Die aggressionsbasierte Schadenfreude betrifft in erster Linie  den Status der Gruppenidentität
Beispiel: Holland freut sich über das Scheitern von Deutschland an einer 
Fussballweltmeisterschaft. Erst recht, wenn Holland hieraus ein Vorteil entsteht.

Die rivalitätsbasierte Schadefreude ist mit dem Individuum referenziert und steht in Beziehung mit zwischenmenschlichem Wettbewerb
Beispiel: Beim Brettspiel Siedler von Catan eine Siedlung auf eine Stelle zu platzieren, die für einen anderen Spieler einen Nachteil, für einen selbst jedoch keinen Vorteil darstellt.

Die gerechtigkeitsbasierte Schadenfreude hingegen kann als Grundlage einer moralischen  Normativität angesehen werden, da durch sie das Gefühl entsteht, Fairness und Gerechtigkeit würden für ein zuvor ungestraftes Unrecht wieder hergestellt.
Beispiel: Ein Dieb bricht sich auf der Flucht beide Beine.

Im Kern geht das Model von Wang et al. davon aus, dass Bedenken hinsichtlich Selbsteinschätzung, sozialer Identität sowie Gerechtigkeit Menschen dazu verleiten, Schadenfreude zu empfinden.

In der Schlussfolgerung betonen Wang et al., dass durch ihre Arbeit andere Forscher ermutigt werden sollen, das theoretische Modell strengen Test zu unterziehen, es zu verifizieren und zu falsifizieren, idealerweise mit dem Ziel, das vorläufige Modell besser an die psychologische Realität anzupassen.

Wer Schadenfreude empfindet

Wir alle verspüren im alttäglichen Leben hin und wieder Schadenfreude, unterscheiden uns jedoch in der Tendenz sowie Intensität. Aus der Sozialpsychologie gibt es Hinweise, dass Menschen mit geringem Selbstwertgefühl den Erfolg anderer Menschen eher als Bedrohung für ihre Selbsteinschätzung wahrnehmen und infolgedessen auch eher dazu neigen Schadenfreude als Glücksgefühl zu verspüren.

Wie ein Team um den Sozialpsycholgen Phillip S. Kavanagh der University of South Australia bereits in einer 2014 veröffentlichen Studie(9) feststellte verspüren insbesondere Menschen, bei denen Persönlichskeitsmerkmale der dunkle Triade(10) (Narzissmus(11), Psychopathie und Machiavellismus(12)) oder Sadismus ausgeprägt sind, deutlich mehr Schadenfreude. 

Einher geht das Gefühl der Schadenfreude – besonders auffällig und anhaltend bei Personen, bei denen Persönlichkeitsmerkmale der dunklen Triade signifikant ausgeprägt sind – mit einer Entmenschlichung des-/derjenigen, der/die das Gefühl der Schadenfreude auslöst. Entmenschlichung  bedeutet in diesem Kontext, dass Einzelpersonen oder Gruppenzugehörigen Eigenschaften, durch die das Menschlichsein charakterisiert sind abgesprochen und somit als weniger bedeutsam erachtet werden.

Eine Gegenthese in der Gewaltforschung besagt hingegen, dass gerade durch das implizite Anerkennen einer Person oder Gruppe als (vollwertige) Menschen sowie deren Freude verursachende Schadennahme, eine Herabwürdigung sowie Objektifizierung als Gewaltmittel besonders effektiv ist.

Aus einer 2013 von Wissenschaftlern der Universität Leipzig sowie Technischen Universität Dresden veröffentlichten Studie(13) geht hervor, dass bereits Kinder im Vorschulalter (4 – 8 Jahre) Schadenfreude fühlen und zeigen. In der Studie wurden 100 Kinder nach Betrachtung von Bildgeschichten zu ihren emotionalen und Verhaltensreaktionen gegenüber einer kindlichen Protagonistin (Sarah) befragt, der ein Unglück widerfuhr (Brechen des Astes auf dem Sarah sitzt), nachdem sie entweder ein moralisches (Sarah möchte ihrem kleinen Bruder Pflaumen von einem Baum pflücken und setzt sich hierzu auf einen Ast) oder unmoralisches Ziel (Sarah bewirft ihren kleinen Bruder mit Pflaumen während sie auf einem Art sitzt) verfolgte. Die das Verhalten von Sarah bewertenden Kinder zeigten eher Schadenfreude, wenn die Protagonistin (Sarah) der Bildergeschichten ein unmoralisches Ziel verfolgte. Im Gegensatz hierzu zeigten Kinder eher Sympathie und Hilfe anbietendes Verhalten, wenn der Protagonist ein moralisches Ziel verfolgte.

Die deutsche Psychologin Rose Schindler et al. der Technischen Universität Chemnitz hat im Jahr 2015 die Studie von 2013 ausgebaut und weitere Erkenntnisse hinsichtlich der Schadenfreude bei Kindern gewonnen(14). Gemäss Rose Schindlers Forschung hängt die Schadenfreude bzw. Sympathie für ein Unglück bei Kindern signifikant vom Geschlecht des Protagonisten ab. Desweiteren differenzieren Kinder nicht, ob das Ziel des Protagonisten erreicht wurde (Sarah will ihre kleinen Bruder mit Pflaumen bewerfen doch bereits davor bricht der Ast; Max will seine kleine Schwester ins Wasser werfen doch vorher rutscht er aus und fliegt selbst ins Wasser). Offensichtlich zählt für Kinder bereits die Intention eines unmoralischen Ziels und nicht ob das Ziel erreicht wurde.

Aus einer kulturvergleichenden Studie(15) geht hervor, dass in einer deutschen Testgruppe (18 Mädchen, 22 Jungen, Alter zwischen 12 Monaten und 77 Monaten) 82.5 % der Kinder (33 von 40) Schadenfreude empfanden während dies in einer entsprechenden peruanischen Testgruppe (20 Mädchen, 20 Jungen, Alter zwischen 48 Monaten und 144 Monaten) lediglich auf 37.5 % der Kinder zutraf. Zudem zeigten peruanische Kinder zum ersten Mal Schadenfreude deutlich später als deutsche Kinder.

Die Schadenfreude des einen und der Glückschmerz des anderen

Ein anderes schönes, deutsches zusammengesetztes Lexem ist das des Glückschmerzes. Auch hier gibt es im Englischen keine Entsprechung wodurch selbst in wissenschaftlichen Studien das deutsche Glückschmerz (oder Gluckschmerz ohne Umlaut im Englischen) als Lehnwort verwendet wird. Beim Glückschmerz – so wird der eine oder Andere bereits richtig erahnt haben – empfindet man Schmerz bei eines anderen Glückes.

Auch wenn Schadenfreude und Glückschmerz in der Forschung (Psychologie) eng korreliert sind reicht der Rahmen eines Blogartikels bei weitem nicht aus, um den immensen Schmerz bei eines anderen freudigen Glückes adäquat vorstellen zu können. Eine aktuelle Zusammenfassung über die gegenwärtige Bedeutung beider Wörter liefert der US-amerikansiche Psychologe Richard H. Smith:

[…Interestingly, since the coronavirus has swept over the county, it may be that we are not only feeling schadenfreude and gluckschmerz more, but we are also being less inhibited in expressing these emotions…](16)

Vielleicht mag dies der Grund sein, warum einer deutschen Wissenschaftsbloggerin, die nach einer durchlaufenen Covid-19-Erkrankung und Immunisierung nun gewisse Privilegien erhält, Glückschmerz (Neid) bei jenen aus ihrem Umfeld erkennen will, die auf ihre Impfung warten und somit ebenso in den Genuss eines normalen Alltags kommen wollen. Vielleicht ist es aber auch bezeichnend, dass man nur eine Seite, die vermeintlich destruktive, erkennt oder erkennen will.

 


(1) Internetauftritt der renommierten und weltweit bekannten Anwaltskanzlei Crane, Poole and Schmidt in Boston, Massachusetts
(2) Das neue Testament erschien 1855, das alte Testament 1871
(3) https://www.myjewishlearning.com/rabbis-without-borders/is-schadenfreude-a-jewish-value/
(4) BibleServer, https://www.bibleserver.com/EU/Psalm109
(5) „Freu dich nicht über den Sturz deines Feindes, dein Herz juble nicht, wenn er strauchelt, damit nicht der Herr es sieht und missbilligt und seinen Zorn von ihm abwendet.“ Quelle: Universität Insbruck, https://www.uibk.ac.at/theol/leseraum/bibel/spr24.html
(6) „Ein Tor lässt seiner ganzen Erregung freien Lauf, aber ein Weiser hält sie zurück.“ Quelle: Universität Insbruck, https://www.uibk.ac.at/theol/leseraum/bibel/spr29.html
(7) freie, sinngemäße Übersetzung aus dem Englischen (zdf-Schmidt)
(8) https://www.sciencedirect.com/science/article/abs/pii/S0732118X18301430
(9) https://www.sciencedirect.com/science/article/abs/pii/S019188691400258X#!
(10) für weitere Informationen zur Dunklen Triade siehe Wikipedia https://de.wikipedia.org/wiki/Dunkle_Triade
(11) siehe auch Das verhasste Spiegelbild eines Narzisst
(12) In der Psychologie wird Machiavellismus als Persönlichkeitsmerkmal aufgefasst, welches sich durch folgende Eigenschaften auszeichnet:
1. relativ geringe gefühlsbetonte Beteiligung bei zwischenmendlischen Beziehungen
2. geringe Bindung an konventionelle, übliche Moralvorstellungen
3. Realitätsangepasstheit
4. geringe ideologische Bindung

(siehe auch https://dorsch.hogrefe.com/stichwort/machiavellismus/)
(13) Schulz, K., Rudolph, A., Tscharaktschiew, N., and Rudolph, U. (2013). Daniel has fallen into a muddy puddle – Schadenfreude or sympathy? British Journal of Developmental Psychology DOI: 10.1111/bjdp.12013
(14) https://journals.plos.org/plosone/article?id=10.1371/journal.pone.0137669
(15) https://www.researchgate.net/publication/311740177_Die_Freude_uber_das_Missgeschick_anderer_-_Schadenfreude_bei_Kindern
(16) Übersetzung (zdF-M. Schmidt):
Interessanterweise empfinden wir seitdem das Coronavirus über das Land hereingebrochen ist möglicherweise nicht nur mehr Schadenfreude und Glückschmerz sondern sind auch weniger gehemmt, diese Emotionen auszudrücken.

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